Positionspapier zum geplanten Selbstbestimmungsgesetz
Positionspapier der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaft und der Fachverbände (DGKJP, BAG KJPP, BKJPP) zum geplanten Selbstbestimmungsgesetz
Dieses Papier ist eine Positionierung der aktuellen Vorstände von BAG KJPP, BKJPP und DGKJP im Rahmen der Debatten um ein neues Selbstbestimmungsgesetz. Es ist keine öffentliche Stellungnahme im engeren Sinn. Das Papier soll insbesondere den Mitgliedern einen Anhalt geben, wie sich die wissenschaftliche Fachgesellschaft und die Fachverbände in der gesellschaftlichen Debatte positionieren.
Im jetzigen Eckpunktepapier der Koalitionsparteien werden Regelungen vorgelegt, die Änderungen im Personenstandsregister vorsehen. Demnach ist bis zum 14. Lebensjahr die Zustimmung der Sorgeberechtigten zwingend. Auf eine ergebnisoffene Beratung vor der Entscheidung bei entsprechenden, auszubauenden Stellen sollen Minderjährige und Sorgeberechtigte aktiv hingewiesen werden. Bei einem Dissens zwischen Sorgeberechtigten und Kind/Jugendlichen muss letztendlich eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung des Familiengerichts erfolgen. Generell soll gelten, dass eine erfolgte Personenstandsänderung mindestens 12 Monate weiter bestehen muss. Sie ist nicht kurzfristig wieder rückgängig zu machen. Des Weiteren wird die Änderung für den bzw. die Betroffene:n kostenpflichtig sein.
Der DGKJP, der BAG KJPP und dem BKJPP ist es wichtig, dass mögliche gesetzliche Regelungen keinen Automatismus bezüglich einer Medikationsgabe (incl. Pubertätsblocker) oder operativer Maßnahmen vorsehen. Gerade auf Grund der komplexen und umfassenden Entwicklung von Jugendlichen, die nicht bis zum 18. Lebensjahr abgeschlossen ist, hätte der Vorstand in einer allzu weit reichenden Regelung ein Problem gesehen. Regelungen, die ein altersunabhängiges Recht auf Medikation oder operative Maßnahmen gleichzeitig mit einer sozialen Transition enthalten hätten, wären aus Sicht der wissenschaftlichen Fachgesellschaft und der Fachverbände abzulehnen. Jeglicher Zugang zu somato-medizinischer Behandlung bedarf einer sorgfältigen leitliniengerechten medizinischen Indikationsstellung. Bei Minderjährigen unterliegt dies einer besonderen ethischen Verantwortung aufgrund des Irreversibilitätsdilemma bei frühem, ebenso wie bei spätem Beginn einer Behandlung. Das Eckpunktepapier lässt solche „Automatismen“ nicht erkennen.
Die Indikationen für medizinische Interventionen müssen weiterhin individuell gestellt werden nach der aktuellen Evidenzlage. Unter Federführung der DGKJP wird derzeit eine AWMF S3-Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter erarbeitet. Diese Leitlinie wird Handlungsempfehlungen zur Diagnostik und Therapie basieren auf dem zum jetzigen Zeitpunkt höchsten wissenschaftlichen Evidenzgrad. Klinisch wird weiterhin die Unterstützung des familiären Umfeldes bei einer entsprechenden Problematik eines Jugendlichen wichtig sein. Eine abstrakte Orientierung am Kindeswohl in komplizierten Fällen, die ggfs. das Recht des Kindes gegen die eigenen Eltern durchsetzt, wird der Entwicklung des Jugendlichen und einer Familie nicht helfen, wenn dies zum Verlust der familiären Bindungen führt. Hier wird neben rechtlichen Aspekten auch die professionelle kinder- und jugendpsychiatrische und –psychotherapeutische Prozessbegleitung des gesamten Familiensystems im Vordergrund stehen müssen. Nur so wird auch in konfliktären Situationen in Familien sowohl dem Art. 6 GG, wie auch dem §1626(2) Genüge getan werden können.
Die Vorstände von DGKJP, BAG KJPP und BKJPP sehen in der skizzierten Regelung einen Kompromiss, der aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht vertretbar ist. Alle weiteren Maßnahmen sollten dem bei Jugendlichen besonders aufwändig und sorgfältig zu gestaltenden diagnostischen und oft auch therapeutischen Prozess mit ergebnisoffenem Ausgang zwischen den behandelnden Ärzten und Therapeuten, Jugendlichen und ihren Familien vorbehalten bleiben.
Generell gehört es bei vielen Thematiken (wie einem Coming-Out von Homosexualität oder Fragen der ethnischen oder sozialen und familiären Zugehörigkeiten) zum therapeutischen Alltag in unserem Fachgebiet, dass Patient:innen eine Realitätstestung zu empfehlen ist. Bereits jetzt ist es so, dass Kinder und Jugendliche auch ohne Änderung des gesetzlichen Personenstandes sich im Zuge einer sozialen Transition im öffentlichen Raum erproben können. Dabei ist es wichtig, dass von öffentlichen Erziehungsinstitutionen (Kindergärten, Schulen) keine Diskrimination erfolgt. Wir begrüßen, dass durch die Möglichkeit der Personenstandsänderung bei unter 18jährigen zunächst in einer sozialen Transition Rollensicherheit und -klarheit von Jugendlichen und ihrer sozialen Umgebung entwickelt und eine neue Identität erprobt werden kann. Der Vorstand ordnet die im Eckpunktepapier vorgesehene Regelung unter dieser Perspektive ein. Auf Grund der möglichen Reversibilität der Personenstandsänderung sieht der Vorstand hier weder eine drohende Vorfestlegung, noch eine weitreichende Gefahr für Jugendliche. Des Weiteren wird abzuwarten sein, in welchem Umfang z.B. Patient:innen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie von der so eröffneten Möglichkeit überhaupt Gebrauch machen wollen.
Gleichwohl fordern die Vorstände ein entsprechendes Monitoring und epidemiologische Forschung zu Auswirkungen und Veränderungen, die der geplanten Gesetzesänderung folgen können. Diese wird unserer fachlichen Beratung bedürfen und aus Routinedaten nicht zu generieren sein.
Berlin/Schleswig/Mainz, September 2022