Offener Brief zu schulischen Leistungsanforderungen
An:
Bundesministerin Anja Karliczek
Bundesministerin Christine Lambrecht
Kultusminister*innen der Länder
In den letzten Wochen und Monaten wurden die negativen Effekte der Sars CoV2-19-Pandemie auf die Entwicklung und die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen vielfältig diskutiert. Dabei wird die hohe Bedeutung des Lebensraumes Schule nicht nur in Bezug auf die Lern- und Leistungsaspekte, sondern auch für eine gesunde psychosoziale Entwicklung für Schülerinnen und Schüler einhellig betont. In der Diskussion um die schulischen Lerndefizite werden jedoch regional bereits jetzt Leistungsnachweise forciert oder die Notwendigkeit für ein „rasches Aufholen“ von Lerninhalten als höchste Priorität benannt.
Als kinder- und jugendpsychiatrische und -psychotherapeutische wissenschaftliche Fachgesellschaft und Fachverbände tragen wir aufgrund der bereits bestehenden stark erhöhten psychischen Belastungen von Kindern und Jugendlichen erhebliche Sorge hinsichtlich der Gestaltung der schulischen Rahmenbedingungen nach Beendigung der pandemie-bezogenen Maßnahmen. Bereits jetzt weisen auch leistungsstarke Schülerinnen und Schüler aller Altersstufen vermehrt schulbezogene Leistungsängste auf, was sich in deutlich erhöhten Anmeldungen in Praxen und Ambulanzen widerspiegelt.
Das letzte Schuljahr mit häufig wechselnden und schwer im Voraus zu planenden Beschulungsmodellen war für alle Beteiligten mit erheblichen Belastungen verbunden, insbesondere für die Schülerinnen und Schüler.
Mit Blick auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen warnen wir eindrücklich vor der Beibehaltung von Leistungsanforderungen und einem forcierten „Aufholen“ von Lerninhalten. Diesbezüglich sei auch betont, dass für die gelingende schulische Entwicklung insbesondere positives Selbstwert- und Selbstwirksamkeitserleben von Schülerinnen und Schülern entscheidend ist. Überforderungssituationen haben hingegen sowohl auf die schulische als auch die psychosoziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen schädliche Auswirkungen.
Dabei sind eine Entlastung in Bezug auf Leistungsanforderungen und die Stärkung der derzeit besonders wichtigen sozialen Aspekte für die gesunde Entwicklung der Schülerinnen und Schüler notwendige Kernelemente. Eine individuelle Lern- und Leistungsdiagnostik, die auch solche emotional-motivationalen Aspekte umfassen sollte, ist zu einem späteren Zeitpunkt, wenn die Kinder wieder ihren Rhythmus im schulischen Alltag gefunden haben, sicherlich die Voraussetzung für eine individuelle Unterstützung der Schülerinnen und Schüler und für die Einleitung notwendiger weitergehender Fördermaßnahmen. Diese sollte aber nicht zum jetzigen Zeitpunkt und auch nicht auf Kosten der notwendigen Erholungsphasen in den Schulferien erfolgen.
Wir appellieren dringend an Sie, für das kommende Schuljahr eine Anpassung der bestehenden Lehrpläne vorzunehmen, die diesen besonderen pandemiebedingten Belastungen Rechnung trägt. Dabei sind Flexibilisierung und Entlastung in Bezug auf Leistungsanforderungen und die Stärkung der derzeit besonders wichtigen sozialen Aspekte für die gesunde Entwicklung der Schülerinnen und Schüler notwendige Kernelemente.
Wir hoffen, dass unser Aufruf in seiner Dringlichkeit einen konstruktiven Prozess anstößt und stehen Ihnen auch gerne für einen weiterführenden Austausch zur Verfügung.
Die Vorstände von DGKJP, BAG KJPP und BKJPP
Berlin, 24.06.2021