Versorgung in Zeiten der Pandemie
(Stationäre) kinder- und jugendpsychiatrische und -psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Zeiten der COVID-19 Pandemie in Deutschland
Die COVID-19 Pandemie und die daraus folgenden Maßnahmen, auch im öffentlichen Leben und im Gesundheitswesen, betreffen die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung in Deutschland. Inzwischen ist eine sehr breite, zum Teil auch sehr öffentlichkeitswirksam geführte Diskussion über die Sinnhaftigkeit der „Lock-Down“-Maßnahmen entstanden. Die Vorstände von DGKJP, BAG KJPP und BKJPP haben sich gegenüber diesen Diskussionen sehr bewusst zurückhaltend verhalten. Wir haben jedoch schon früh darauf hingewiesen, dass psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche weiterhin der kinder- und jugendpsychiatrischen und -psychotherapeutischen Versorgung bedürfen, dass die Notfallbehandlung jederzeit gesichert sein muss und unsere Patient*innen generell der Versorgung bedürfen.
Inzwischen finden in Deutschland Maßnahmen der Lockerung der strengen Vorschriften im öffentlichen Leben statt. Gleichzeitig ist absehbar, dass das infektiologische Geschehen sich weiter fortsetzen wird und bis zur Verfügbarkeit einer entsprechenden Impfung oder anderer Maßnahmen, Vorsichtsmaßnahmen weiterhin notwendig sein werden. Gerade für den Bereich des Gesundheitssektors werden auf absehbare Zeit besondere Vorschriften hinsichtlich Infektionsschutz und Hygienemaßnahmen bestehen. Insbesondere Krankenhäuser werden weiterhin von besonderen Schutzmaßnahmen betroffen sein, die zum Beispiel auch Besuchsverbote bzw. Begrenzung von Besuchen etc. inkludieren. Die Vorstände der DGKJP, BAG KJPP und des BKJPP möchten deswegen Stellung nehmen zu allgemeinen Therapieprinzipien im Rahmen der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung, insbesondere im stationären und teilstationären Setting, die auch in Zeiten der Pandemie notwendig sind. Dies soll dazu dienen, dass sich auf lokaler Ebene Klinikleitungen gegebenenfalls mit betreffenden Stellen austauschen können, um zu prüfen, inwieweit besondere Regelungen für die Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Rahmen des Infektionsschutzes und der Hygienemaßnahmen möglich oder notwendig sind, die dennoch eine angemessene Behandlung ermöglichen. Da generell nach der föderalen Logik Länderregelungen entscheidend sind, ist auch festzustellen, dass z. B. seitens der Gesundheitsministerien der Länder sehr unterschiedliche Regelungen für psychiatrische Krankenhäuser gelten und diese vornehmlich auch bezogen sind auf den unmittelbaren Sicherstellungsauftrag der Psychiatrie, nämlich die Behandlung gerichtlich untergebrachter Patient*innen. Entsprechende Regelungen, die rein auf eine Akutbehandlung von Patient*innen mit schwerster Eigen- oder Fremdgefährdung abzielen, auf die kinder- und jugendpsychiatrische Regelbehandlung zu übertragen, halten wir für problematisch.
Generelle Prinzipien kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung – auch im stationären Setting
Generell zeichnet sich die kinder- und jugendpsychiatrische und -psychotherapeutische Behandlung durch sowohl den multimodalen Ansatz, als auch den Einbezug von Bezugspersonen in die Behandlung des betroffenen Kindes oder Jugendlichen aus. So wie in vielen Leitlinien Eltern- bzw. Bezugspersonen-zentrierte Maßnahmen zum Teil sogar als Mittel der ersten Wahl benannt werden, so bedarf es auch im Rahmen der stationären und teilstationären kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung des engen Einbezugs von Eltern und Bezugspersonen. Eine reine Behandlung des Kindes oder Jugendlichen allein ist in den wenigsten Fällen zielführend und wird wenig Aussicht auf Erfolg haben, insbesondere bei der Transmission in die Lebensumwelt des Kindes/ Jugendlichen. So ist regelhaft auch der Einbezug der Schule im Rahmen der Behandlung notwendig, wie auch Elterngespräche, Eltern-Kind-Interaktionsbehandlungen etc. Neben dem reinen Behandlungsziel ist es auch ein ethisches Prinzip, Kinder nicht dauerhaft von ihren Bezugspersonen zu trennen, ja es ist ein Kinderrecht, Kontakt zu den Bezugspersonen zu haben. Beispielsweise wurde das Wahrnehmen des Umgangsrechts zu getrenntlebenden Elternteilen auch durch Reiseverbote der Bundesländer nicht ausgehebelt – akut infektbedingte Kontaktverbote ausgenommen. Einschränkungen des Rechts auf Kontakt zu Eltern bzw. Sorgeberechtigten, aber auch wichtigen Bezugspersonen wie Geschwistern, müssen im eigentlichen mit dem Kindeswohl begründet werden.
Folgen für die Behandlung bei Fortbestehen der COVID-19 Pandemielage
Aus dem oben ausgeführten zeigt sich, dass schlechterdings Kontaktbeschränkungen zu Eltern im Rahmen eines mehrwöchigen Diagnostik- und Behandlungsaufenthaltes in der Kinder- und Jugendpsychiatrie kaum möglich und auch nicht vertretbar sind. Zu Beginn der Lock-Down-Maßnahmen wurde in den kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken versucht, nur die notwendigsten Behandlungen stationär durchzuführen und dennoch die vorzeitig entlassfähigen oder noch wartefähigen Patient*innen mittels alternativer Methoden ambulant bzw. per Telefon oder Videosprechstunde zu behandeln. Dies kann eine kurze Zeit lang gelingen und gelingt überwiegend auch bei bereits mit ihren Therapeut*innen bekannten Kindern und Jugendlichen gut, eine Dauerlösung für die Behandlung von Patient*innen ist es nicht. Vor allem Kinder benötigen das Tun – eine Handlungsebene mit Fachtherapeut*innen und Therapeut*innen. Bereits vor der COVID-19 Pandemie wurden in kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken ohnehin nur die schwersten Fälle stationär oder teilstationär behandelt, die Verweildauer hatte sich schon in den letzten Jahrzehnten extrem verkürzt und der Anteil von Krisenbehandlungen hat kontinuierlich zugenommen. Es ist mitnichten so, dass aktuell keine Suizidversuche oder keine psychotischen Dekompensationen mehr stattfinden würden. Die Pflichtversorgung ist auf jeden Fall aufrecht zu erhalten. Bei der in Kliniken behandelten Patient*innenklientel handelt es sich also nicht um Patient*innen, die ohne weiteres in das ambulante Setting zur Behandlung transferiert werden können. Oft spielen dabei auch Umfeldfaktoren, wie die familiäre oder die schulische Situation eine entscheidende Rolle, die die Behandlungsnotwendigkeit mit den Mitteln des Krankenhauses bedingen.
Ein weiterer wichtiger Faktor in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen ist, dass der Gruppeneffekt genutzt wird. Ein überwiegender Anteil der Patient*innen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie hat deutliche Defizite in den sozialen Kompetenzen. Die Therapie beinhaltet also auch eine Steigerung der sozialen Kompetenzen, was regelhaft in der millieutherapeutischen Arbeit innerhalb der Stationen und Patient*innengruppen stattfindet. Aus diesem Grunde heraus ist es kaum vorstellbar, dass Kinder und Jugendliche in der stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie etwa die meiste Zeit in Einzelzimmern verbringen und die Essenssituationen im Einzelzimmer stattfinden sollen etc. Unter solchen Aspekten würde eine solche Therapie zur geradezu monströsen Isolierung von Kindern und Jugendlichen führen. Eine solche käme quasi einer Deprivation gleich und ist nur bei sehr begrenzten schwersten akuten Erkrankungszustände zu rechtfertigen.
Regionale Besonderheiten von Kliniken
Kinder- und jugendpsychiatrische Behandlungseinheiten finden sich in unterschiedlichen Konstellationen, von Abteilungen am Allgemein- und Maximalkrankenhaus oder an Kinderkliniken bis hin zu Abteilungen an rein psychiatrischen Krankenhäusern oder als eigenständige Tageskliniken oder kinder- und jugendpsychiatrische Kliniken. Aus diesem Umstand ergibt sich, dass aufgrund von Besuchskontakten durch Eltern oder Angehörige andere, somatisch erkrankte Patient*innen und Risikogruppen sehr unterschiedlich, je nach Einrichtung, baulichen Gegebenheiten und Wegeleitung, gefährdet werden können. Es bedarf also lokaler Konzepte, je nach Lage und Art des einzelnen Krankenhauses, und dementsprechend auch unterschiedlich strenge und strikte Besuchsregelungen. Dies erscheint nach den bisherigen Länderregelungen unzureichend in Hinblick auf die Bedürfnisse von kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung ausgestaltet zu sein. Einige Bundesländer haben die Ausgestaltung hinsichtlich psychiatrischer Patient*innen ganz den Krankenhausträgern überlassen.
Güterabwägungen auf verschiedensten Ebenen notwendig
Die Vorstände der DGKJP, BAG KJPP und des BKJPP haben die ergriffenen Maßnahmen der Eindämmung der Pandemie zunächst als kurzfristige und kurzdauernde Maßnahmen gesehen und von daher die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche auch für überschaubar eingeschätzt, wenn diese wenige Wochen dauern. Unter dem Aspekt einer länger dauernden Konfrontation mit der Pandemielage muss bezüglich der Behandlung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher aber eine Güterabwägung zwischen Infektionsschutz einerseits und den Behandlungsnotwendigkeit psychisch kranker Kinder und Jugendlicher andererseits getroffen werden. Ein längerfristiges Aussetzen und starkes Reduzieren der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgungskapazitäten gerade im teil- und vollstationären Bereich wird zu deutlichen Problemen führen. Unter dem Primat, dass es sich bei Kindern und Jugendlichen um sich entwickelnde Wesen handelt, kann es zu großen Problemen hinsichtlich der Absolvierung von Entwicklungsschritten, der sozialen Integration etc. kommen, wenn psychische Störungen nicht behandelt werden. Störungen können schnell chronifizieren. Deshalb müssen lokale und regionale Konzepte erarbeitet werden, um die Behandlung der schwersterkrankten Kinder und Jugendlichen, die der stationären und teilstationären kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung bedürfen (und nur diese waren auch bisher in selbiger) zu sichern. Dazu müssen die entsprechenden Fachleute für Hygiene- und Infektionsschutz kontaktiert werden und diesen auch notwendige Bestandteile kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung (Interaktionen, Besuche, Gruppentherapien, direkte Beobachtung von Mimik etc.) verdeutlicht werden, um unter diesem Aspekt nach Lösungen für eine vertretbare – unter Infektionsgesichtspunkten – Behandlung zu suchen.
Nicht vertretbar sind aus Sicht der Fachgesellschaft und der Fachverbände Regelungen, alle Patient*innen nach Aufnahme erst einmal zu quarantänisieren – d. h. faktisch zu isolieren, bevor sie in die Patient*innengruppe aufgenommen werden können.
Ebenso wenig vertretbar ist die Zweckentfremdung psychiatrischer Abteilungen zur Unterbringung von Menschen, die sich aus welchen Gründen auch immer nicht an Quarantäneauflagen halten. Liegt eine psychiatrische Störung vor, sind solche Patient*innen genau so zu behandeln wie reguläre familiengerichtliche oder öffentlich-rechtlich Untergebrachte, d. h. es braucht eine Indikation und einen Gerichtsbeschluss für die vorgenommene Freiheitsentziehung.
Ebenfalls nur schwer vertretbar ist eine Maskenpflicht für alle im Stationsalltag – hier sollten Stationsgruppen als „häusliche Gemeinschaft“, ebenso wie Wohngruppen in der Jugendhilfe oder eben Großfamilien betrachtet werden. Zumindest in psychotherapeutischen Sitzungen könnte gelten, dass in gut gelüfteten Räumen mit Einhaltemöglichkeit von Abstand die Masken abgenommen werden können.
Kinder- und jugendpsychiatrische Abteilungen sollten andererseits als eine der ersten berücksichtigt werden, wenn es um die Einführung flächendeckender und regelmäßiger PCR- oder Antikörperbestimmungen geht. Denn unsere Patient*innen haben verglichen mit somatischen Patient*innen sehr lange Verweildauern.
Kinder- und jugendpsychiatrische Abteilungen sollten ebenfalls berücksichtigt werden, wenn es um die Wiedereröffnung der Schulen geht. Schulen für Kranke sind ein essentieller Baustein einer ganzheitlichen Herangehensweise an gestörte Kinder und Jugendliche und für diese ein unverzichtbarer Realitätsraum, wie oben ausgeführt.
Berlin/ Schleswig/ Mainz, 30.06.2020